Heidis Weg zurück in ihren Körper
Fallgeschichte: Heidi (24)
»Mein Körper hat Angst vor allem, was eindringen will.«
Heidi sagt, ihr wichtigstes Ziel sei es, eine gynäkologische Untersuchung möglich zu machen. Ihre Frauenärztin habe sie hergeschickt und ein Sexualcoaching empfohlen. Heidi habe panische Angst davor, dass eine gynäkologische Untersuchung wehtun könnte. Sie verkrampfe sofort. Ihre Vagina sei blockiert. Sie könne auch keine Tampons benutzen. Und „selbstverständlich“ auch keinen Geschlechtsverkehr haben. Sie und ihr langjähriger Freund haben sich vor kurzem getrennt. Zurzeit ist sie froh, dass sie alleine ist. Sie will zunächst einmal klären, was mit ihrem Körper los ist. Ihr Ex-Freund war zwar stets verständnisvoll, trotzdem hat das Eindringen nie geklappt. Ihr Beckenboden verkrampfe sofort. Ihre Angst: Was passiert, wenn der Penis darin steckenbleibt? Ihr Herz rast. Sie hat Panik. Sie empfindet Wut. Wut auf sich selbst. Das kriegt doch jede Frau hin! Sie hat versucht, ihren eigenen Finger einzuführen. Das klappt nicht. Ja, Erregung ist da. Selbstbefriedigung tut gut. Es ist schön, die Klitoris zu stimulieren. Einen Orgasmus erreicht sie leicht. Durch ihre eigene Hand, durch die Hand des Ex-Freundes oder durch seinen Mund. Trotzdem hält die Scheide zu. Sie sagt, in der Scheide gibt es einen Widerstand. Sobald sie diesen fühlt, steigt Panik auf. Sex sei erregend, angenehm. Alles sei schön. Alles, außer Geschlechtsverkehr.
Ich frage, welches Verhältnis sie zu ihrem Körper hat? Fühlt sie sich in sich selbst zu Hause? Sie meint, sie fühle sich sehr weit weg von ihrem Körper. Sie fühlt sich in sich selbst nicht wohl. Auch habe sie Schuldgefühle ihrem Ex-Freund gegenüber, weil das mit dem Eindringen nicht klappte. Zwingen könne sie sich nicht, obwohl sie es sogar versuchte. Woher kommt die Angst? Sie weiß es nicht. Da ist ein Bild. Sie ist ein kleines Mädchen und spielt mit ihrer Freundin. Sie haben eine Luftpumpe und pusten sich gegenseitig Luft auf die Scheide. Ich frage, haben sie vielleicht versucht, die Luftpumpe einzuführen? Ist sie steckengeblieben? Sie sagt, sie weiß es nicht.
Sie sagt, das Vertrauen zu Jungs fällt ihr sehr schwer. Obwohl ihr Freund stets aufmerksam war. Sie hat Angst vor Kontrollverlust. Sie hat Angst, die Kontrolle zu verlieren, wenn der Mann erst mal erregt ist. Es falle ihr schwer, loszulassen. Sie sagt: „In intimen Verbindungen kann ich mich nie ganz gehen lassen, weil ich Angst habe, dass es wehtun könnte.“
Ich beruhige Heidi. Wir werden zunächst einmal den Körper in aller Ruhe und ohne Druck erkunden. Damit sie ihren eigenen Körper zunächst einmal in aller Ruhe kennenlernen kann.
Die Körperarbeit
Sie liegt mit Sporthose und T-Shirt bekleidet auf der Liege. Ich stehe daneben. Ich sehe, dass Kiefer, Hals, Oberkörper und Bauch angespannt sind. Der Atem fließt flach, Brust und Bauch heben sich kaum. Ich frage, ob ich meine Hände auf den Körper legen darf. Ich darf. Ich lege eine Hand auf ihren unteren Bauch, die andere auf das Brustbein. Ich spüre in den Körper hinein, spüre die Körperspannung unter meinen Händen. Ich frage, was fühlst du? Sie sagt, eine Hand fühlt sich schwerer an als die andere und auch wärmer. Die Wärme sei angenehm. Sie fühle sich vollkommen entspannt. Ich sehe und fühle jedoch, wie die Muskeln festhalten. Ich erkläre ihr, die Anspannung ist so normal für ihren Körper geworden, dass sie sich entspannt fühlt, obwohl alle Muskeln festhalten. Meine Aufgabe ist nun, ihre Wahrnehmung zu erweitern, damit sie selbst sowohl Anspannung also auch Entspannung fühlen kann. Erst wenn sie die Anspannung fühlt, kann sie immer ein wenig mehr davon loslassen.
Wir arbeiten mit dem Atem. Nun liegen ihre eigenen Hände auf Brustbein und unterem Bauch. Was fühlt sie? Was hebt und was senkt sich, während die Luft ein- und ausströmt?
Heidi berichtet, wenn sie einatmet, werde ihr Bauch flach. Die Luft bleibt im Oberkörper. Sie atmet „verkehrt herum“ bzw. eingeschränkt. Beim Einatmen zieht sie den Bauch ein, beim Ausatmen lässt sie los. Ich sage, so ist das bei vielen Frauen, die unter Vaginismus leiden. Aber es ist für den Bauchraum entspannender, wenn er beim Einatmen losgelassen wird. Es geht nicht darum, „nur“ über den Bauch zu atmen, sondern „auch“ über den Bauch. Dafür kann sie das Atmen einmal bewusst umgekehrt probieren. Einatmen, Bauch loslassen. Geht das?
Es fällt ihr schwer, beim Einatmen loszulassen: Bauch, Po, Kiefer, Oberschenkel, ihr ganzer Körper befindet sich permanent unter Spannung. Sie berichtet, nachts trägt sie eine Schiene für den Kiefer, damit sie nicht mit den Zähnen knirscht.
Wir arbeiten mit Wahrnehmungsübungen. Ich frage, wie es sich anfühlt, den Anus anzuspannen und langsam wieder loszulassen? Den Scheideneingang nach innen zu ziehen und loszulassen? Die Harnröhrenöffnung nach innen zu ziehen und loszulassen? Die Klitoris nach innen zu ziehen und loszulassen? Kann sie die unterschiedlichen Bereiche orten?
Mein Körper vermeidet urinieren
Wie sitzen uns wieder gegenüber und besprechen die eben gemachten Erfahrungen. Heidi sagt, die größte Problemzone sei ihre Harnröhrenöffnung. Wenn sie Wasser lassen möchte, dann wisse sie schon vorher, dass das Entspannen eine Weile dauern wird, gefühlte zehn Minuten. Das Entspannen sei richtig harte Arbeit für sie. Am schlimmsten sei es, wenn sie ein Konzert besuche und sich vor der Toilette schon eine Schlange gebildet habe. Dann wisse sie schon während des Wartens, dass es bei ihr eine Weile dauern wird, bis sie wieder herauskommt. Sie gehe überhaupt nicht gerne zur Toilette. Deshalb vermeide sie dies und gehe so selten wie möglich. Normalerweise nur zweimal pro Tag. Einmal morgens, einmal abends. Sie trinke extra wenig, damit das klappt. Am liebsten würde sie sich überhaupt nicht mit dem „dort unten“ beschäftigen, denn das mache ihr nur Ärger. Sie weint. Die langen Haare fallen vors Gesicht. Der Körper schüttelt sich. Ich empfehle erst mal Beruhigung. Entspannen. Dann schlage ich Bewegung vor.
Ich lege Musik auf, wir arbeiten mit Lockerungsübungen im Stehen. Wir tanzen. Ich staune, wie schnell Heidi ihre Anspannung vergisst und losgelöst tanzen kann. Das ist ein gutes Zeichen, ermutige ich sie.
Der entspannte Blick auf das weibliche Geschlecht
Zwei Monate später. Heidi sitzt auf der Liege, das eine Ende ist hochgeklappt, damit sie entspannt daran anlehnen kann. Zwischen ihren Beinen steht ein runder Spiegel. Wir betrachten in aller Ruhe ihre Vulva. Wir sprechen darüber, was wir entdecken. Das Anschauen ihres Geschlechtsorgans mit mir zusammen ist eine große Herausforderung. Wir freuen uns über ihren Mut. Nun kann die Vulva aus ihrer dunklen Ecke auftauchen und an das Tageslicht treten. Wir können sie betrachten, wir können über sie sprechen, wie über einen ganz natürlichen Körperteil, der sie ja auch ist. Wo sind die Schamlippen? Die äußeren, die inneren? Die Klitoris?
Ich ermuntere Heidi, sich selbst mit ihren Händen zu erforschen. Wie fühlt es sich an, wenn ihre Finger über die Schamlippen streicheln? Wie kann sie dabei entspannt weiteratmen, ohne die Luft anzuhalten? Ich gebe ihr viel Gleitgel auf die Hände, damit die Finger sanft gleiten können. Ich ermuntere, die Hände rechts und links der Schamlippen zu legen und die Vulva behutsam ein wenig auseinanderzuziehen. Wir betrachten den Scheideneingang. Er scheint sehr eng und zusammengezogen. Wieder rege ich zum entspannten Atmen an, um besser loszulassen. Ist es ihr möglich, die Fingerkuppe ihres Zeigefingers auf den Scheideneingang zu legen und entspannt zu bleiben? Es ist möglich. Wie fühlt sich das an, frage ich? Warm. Gekräuselt. Angenehm.
Ich schlage vor, den Scheideneingang einmal bewusst anzuspannen und wieder loszulassen. Ist das an ihrem Finger spürbar? Heidi lacht. Sie spürt an ihrer Fingerkuppe eine ganz kleine Bewegung, wie ein ganz kleines Schnappen. Das Ausprobieren scheint die Angst ein wenig in den Hintergrund zu drängen. Es ist ein spannendes Projekt, ein Erkundungsabenteuer.
Der nächste Termin. Wir wollen ausprobieren, ob ich das Geschlechtsorgan berühren darf. Der Körper sagt „ja“, er bleibt entspannt. Ich trage Silikonhandschuhe, das ist angenehmer für uns beide. So muss ich nicht befürchten, mit eventuellen rauen Stellen an meiner Hand oder Fingern zu irritieren. Und es sorgt für ein wenig Distanz, die es leichter macht. Wie fühlt es sich an, wenn meine Hand auf dem Schamhügel liegt? Wenn meine Fingerspitzen leicht über die Schamlippen gleiten? Es geht darum, reale Wahrnehmungen zu vermitteln, die durch die Hände fühlbar werden. Es geht darum, wegzukommen von der Vorstellung, dass Berührungen Schmerzen verursachen könnten. Hinzu kommt: Es fühlt sich wunderbar an, aufmerksam berührt zu werden. Meine Fingerkuppe liegt auf dem Scheideneingang, ohne dass Angst entsteht. Ich ermuntere Heidi, einzuatmen und sich vorzustellen, sie würde dabei meine Fingerkuppe einen Millimeter in sich hineinziehen. Ich spüre das Anspannen und Loslassen der Muskeln an meiner Fingerkuppe. Heidi ist voller Freude, denn sie spürt es auch. Wir lassen das für den heutigen Termin so stehen. Zunächst einmal sollen sich die neuen Erfahrungen in aller Ruhe in Körper und Hirn einsortieren.
Während der nächsten Termine geht die Erfahrungsarbeit weiter. Ich mache Vorschläge, Heidi bestimmt, was getan wird. Es mag sich für eine Leserin, die vom Problem auch betroffen ist, eigenartig anhören und anfühlen, dass so eine intime Arbeit mit einer Therapeutin möglich ist. Aber die Arbeit geht langsam vor sich und baut Schritt für Schritt aufeinander auf. An jedem Punkt hat die Klientin die Möglichkeit, abzubrechen, etwas anderes zu wollen. Es geht um ihren Körper, ich helfe ihr dabei, diesen zu erkunden, zu erleben, zu erfahren. Ganz in Ruhe. Immer in ihrem eigenen Tempo. Meine Fingerkuppe liegt in der Scheide, ungefähr ein Zentimeter im Inneren. Die Scheide ist nicht weit aber auch nicht mehr besonders eng. Sie hat sich in der wochenlangen Arbeit bereits entspannt. Heidi ist sehr glücklich. Behutsam tastet der Finger weiter, Millimeter für Millimeter. Ich stoppe, um zu fragen, was Heidi fühlt. Es fühlt sich „normal“ an. Mit Hilfe des Spiegels kann sie kontrollieren, dass der Finger wirklich in ihr verschwunden ist, obwohl nichts wehtut. Beim nächsten Termin kann bereits ein zweiter Finger hinzukommen. Ich sage, zwei aneinander liegende Finger sind in etwa so breit wie ein normaler Penis. Das heißt, auch ein Penis würde passen. Du bist so weit.
Zu diesem Zeitpunkt, hat sich das Aussehen der Vulva bereits komplett gewandelt. Zu Beginn der Körperarbeit zusammengezogen und eng. Jetzt ist das Gewebe locker und entspannt. Da ist mehr Zwischenraum zwischen den äußeren Schamlippen. Die inneren Schamlippen schauen ein wenig hervor. Auch der Bereich um die Klitoris herum tritt deutlicher hervor. Der Scheideneingang wirkt gelöst und ist gelöst.
Zu Hause übt Heidi, ihre eigenen Finger einzuführen und das mit Erregung zu verbinden. Sie nutzt einen Dildo, sie nennt ihn Bruno, der ist nicht besonders klein und gleitet dennoch ohne Probleme in ihre Scheide. Auch die Harnröhrenöffnung hat sich entspannt. Wasserlassen ist einfacher geworden. Den Widerstand in der Scheide, von dem Heidi zu Beginn sprach, haben wir übrigens nie gefunden. Sie sagt, das entspannte Atmen bis in den Bauch hinein helfe ihr, auch in anderen Bereichen des Lebens lockerer und entspannt zu bleiben. Zum Beispiel im Büro.
Wir haben fast ein Jahr lang miteinander gearbeitet
Dazu kamen regelmäßig Hausaufgaben. Es ist geschafft. Heidi ist über alle Maßen glücklich. Ich auch. Ich bin stolz auf uns. Es fühlt sich an wie eine Win-win-Situation. Das Ziel ist erreicht. Sie vereinbart nun einen Termin mit ihrer Gynäkologin. Sie vermutet, dass die Untersuchung zwar gelingen wird, rechnet aber damit, dass sie Zeit brauchen wird, um zu entspannen. Es klappt viel besser als erwartet. Das Spekulum kann ohne Weiteres eindringen. Sie sagt, sie war total überrascht. Sie hatte überhaupt gar keine Angst mehr. Sie berichtet, danach sei sie zunächst einmal in das Café gegenüber gegangen und habe sich zur Feier des Tages einen großen Eisbecher genehmigt. Während sie diesen genüsslich löffelte, habe sie sich innerlich auf die Schultern geklopft. Du hast es geschafft! Endlich. Du bist so weit. Jetzt kann es weitergehen. (((Ende)))
Im der nächsten berührenden Fallgeschichte geht es um Nora, die ihren Vaginismus leider nicht auflösen konnte. Dennoch konnte sie ohne medizinischen Eingriff ihren sehnlichsten Wunsch nach einem Kind erfüllen. Wie hat sie das geschafft?
(Der Artikel ist meinem Buch entnommen: Endlich guter Sex (2021), Seiten 26-33)