Kann ich trotz Vaginismus Mutter werden?
Fallgeschichte: Nora (38)
Nora hatte – wie die meisten der Frauen, die unter Vaginismus leiden – große Angst vor allem, was sich ihrer Scheide nähert. Noras Angst war besonders intensiv und sehr fest verankert. Zu Anfang unserer Arbeit geriet sie bereits in Panik, wenn ich nur neben der Liege stand, auf der sie bekleidet lag. Dennoch schafften wir es durch Atemübungen und viel Vertrauen, dass sie sich allmählich etwas entspannen konnte.
Nora war außergewöhnlich mutig
Trotz ihrer schrecklichen Angst ging sie immer wieder ein Stück weiter. Allerdings war es Nora nach längerer Zusammenarbeit immer noch nicht möglich, sich selbst intim zu berühren und damit Kontakt mit ihrem Geschlecht aufzunehmen. Ich sprach oft davon, wie wichtig es sei, Hausaufgaben zu machen, um weiterzukommen. Wie wichtig es sei, das weibliche Geschlecht regelmäßig zu berühren, zu erkunden und auch zu stimulieren. Dennoch war und ist es ihr nicht möglich, sich selbst zu berühren. Es ist nicht so, dass sie nicht will, sie kann nicht. Das Verbot, die ständigen Ermahnungen, die abwertenden Äußerungen der Mutter über alles, was mit Körperlichkeit oder Sexualität zu tun hatte, zeigen Wirkung, weit über die Kindheit hinaus.
Zu Anfang des Coachings vermutete sowohl ihr Psychotherapeut als auch ich, dass ein sexueller Missbrauch hinter der schrecklichen Angst stecken müsse. Aber es gab keinerlei konkrete Hinweise dafür, dass sie in der Vergangenheit Opfer eines Missbrauchs geworden war. Mutmaßungen sind daher fehl am Platz. Man kann zwar nie hundertprozentig sicher sein, welcher der Auslöser für eine Angststörung ist, doch nach meinen Erfahrungen mit vielen betroffenen Frauen und Männern kann das Heranwachsen in einem sexualfeindlichen Klima bei einigen Menschen durchaus ausreichen, um große Scham und große Angst vor Sexualität zu entwickeln.
Als Kind war Erregung bei Nora durchaus vorhanden. Ihr Körper funktionierte. Sie erinnert sich, dass der Stoff ihrer Schlafanzughose im Schritt ab und zu durchgescheuert war, weil sie sich häufig dort berührte. Die Mutter flickte die Stelle immer wieder, mit den entsprechenden Ermahnungen: „Du willst doch kein schmutziges Mädchen sein?“ Nora schämte sich. Als Erwachsene hatte sie durchaus erotische Fantasien im Kopf, befand sich sogar in einer Art ständiger Erregtheit. Diese fanden jedoch keinen Weg ins Geschlechtsorgan. Kopf und Körper blieben getrennt.
Ist die Mutter „schuld“ daran? Sie wollte nur das Beste für ihr Kind. Wahrscheinlich hatte sie selbst keine Freude an Erotik. Wollte ihre Tochter schützen vor dem, was ihr ohne Warnung in der Welt passieren könnte. Wollte, dass ein braves Mädchen aus ihr wird. In diesem Sinne war sie– sozusagen – sehr erfolgreich. Jeder hat ja sein eigenes Päckchen auf der Schulter. Nicht selten geben Eltern ihre Ängste und schlechten Erfahrungen bewusst oder unbewusst an ihre Kinder weiter. Das ist ein Grund, warum ich Bücher über Sexualität schreibe: Denn in meinem Beruf darf ich täglich erleben, wie einschneidend diese Übertragungen einerseits sind, aber auch, dass es nie zu spät ist, das Sexualleben zu leben, das für einen selbst richtig, wichtig und erfüllend ist.
Trotz ihrer sexuellen Probleme fand Nora einen wunderbaren Ehemann
Und sie wünschte sich eine Familie. Wie sollte das gehen? Ihr Liebesspiel war aufeinander abgestimmt. Sie stimulierte ihn. Sie mochte Zärtlichkeiten oberhalb der Taille. Ihr Geschlechtsorgan blieb außen vor. Trotzdem, trotz der geschlossenen Tür, ging Nora weiter. Und das schon zweieinhalb Jahre, bevor sie zum ersten Mal ins Coaching kam.
Sie hatte sich im Internet informiert, wie eine Befruchtung ohne Geschlechtsverkehr möglich sein könnte und hatte die „Bechermethode“ gefunden. Das wollte sie einmal ausprobieren. Sie bestellte im Internet ein Set aus Spritzen, die schmalsten, die es gab und einen Becher. Sie sagte, den Becher brauchte sie gar nicht. Ihr Mann ejakulierte auf seinen Bauch. Sie zog das Ejakulat mit der Spritze auf und legte sich neben ihn. Nun sollte er das Zimmer verlassen, sie musste sich konzentrieren. Denn nun sollte die Spritze (natürlich ohne Nadel) in die Vagina eingeführt werden. Es gelang, trotz Schwierigkeiten, denn die Motivation war sehr, sehr hoch. Sogar mehrmals. So wurde sie tatsächlich schwanger.
So wurden die beiden glückliche Eltern
Nora berichtet, dass ihr Kinderwunsch so groß war, dass sie das auf sich nahm und sie könne es im Nachhinein selbst kaum glauben, dass sie die nächste Frage so lange verdrängt hatte: Das Kind musste ja auch irgendwie herauskommen! Erst als sie mit Wehen auf dem Weg ins Krankenhaus war, wurde ihr das richtig bewusst. Sie war während der Schwangerschaft kein einziges Mal beim Arzt gewesen, alles verlief problemlos. Nun sollte eine Hebamme ihre Scheide untersuchen. Nora wollte nicht. Die Hebamme holte den Arzt. Ein junger Arzt eilte ins Zimmer, ein Spekulum in der Hand. Nora sagt, sie fühlte sich, als wolle er sie vergewaltigen. Sie geriet in Panik, klammerte sich an ihren Mann, gab angstvolle Laute von sich. Ihr Mann rief, das ist nicht möglich, das muss anders gehen. Der Arzt war überrascht, entschied aber: Wir machen einen Kaiserschnitt. Nora war erleichtert. Hauptsache die Scheide blieb geschlossen. So wurden die beiden glückliche Eltern.
Nach einer längeren Coaching-Pause, ihr Sohn ging mittlerweile zur Schule, kam Nora wieder, dieses Mal zusammen mit ihrem Mann. Am Ende des ersten Termins sagte er, nach den allerersten Berührungsübungen sei ihm bewusst geworden, wie wichtig es doch sei, noch mal ganz von vorn anzufangen. Noch mal ihre Körper gegenseitig kennenlernen. Sich viel langsamer, behutsamer und aufmerksamer anzunähern als bisher. Er freue sich sehr darauf. Mal schauen, wie es weitergeht. Es ist ja nie Stillstand.
(Der Artikel ist meinem Buch entnommen: Endlich guter Sex (2021), Seiten 33-37)