Gabis Geschichte: Vom Schmerz zur Selbstermächtigung
Fallgeschichte: Gabi (26)
»Ich bin seit vier Jahren verheiratet und noch Jungfrau.«
Während des Erstgespräches sitzt Gabis Ehemann neben ihr auf der Praxiscouch. Er sitzt an das Polster gelehnt, die Hände gefaltet. Sagt kaum etwas. Ich kann sehen, dass er sich unwohl fühlt. Er schaut meistens zur Wand oder zum Boden. Es ist ihm offensichtlich sehr peinlich, hier zu sitzen. Sein sexuelles Eheleben hat er sich sicher anders erträumt. Gabi berichtet, dass sie beide keinerlei Erfahrungen hatten, als sie heirateten. Das mit dem Sex klappt leider gar nicht. Sobald sich sein Penis ihrer Scheide nähert, entsteht Panik bei ihr. Ihr ganzer Körper spannt sich an, sie weicht zurück und gibt angstvolle Laute von sich, was ihn wiederum zurückweist. Diese Reaktion kann sie leider nicht überwinden. Gleichzeitig schämt sie sich dafür. Alle ihre Schwestern haben Kinder. Nur sie nicht. Die Mutter fragt häufig, warum nicht? Deshalb ist sie hier. Ich frage, ob es denn Zärtlichkeiten gibt zwischen ihnen? Ob sie sich gegenseitig streicheln? Sie schaut auf ihren Mann. Er schaut zur Wand. Eher nicht.
Zum nächsten Termin kommt Gabi allein. Das ist mir recht, so kann Gabi offen sprechen. Selbstbefriedigung kennt sie nicht, aber Erregung schon. Als sie sich kennenlernten, fand sie ihren Mann sofort sehr attraktiv und spürte ein angenehmes Kribbeln im Unterleib. Das änderte sich erst, als er ihr nahekam. Sie hat eine wichtige Frage an mich und beugt sich vor...
Kann sich ein Mann in Erregung steuern?
„Hat er die Kontrolle?“ Ich frage, was sie genau meint? Sie sagt: „Wenn er eindringt, kann er dann steuern, wie er sich bewegt? Oder geht das automatisch hin und her, bis er ejakuliert? Kann er stoppen? Kann er auch langsam machen? Hat er die Kontrolle? Oder hat ein Mann keine Kontrolle, wenn er erregt ist?“ Ich antworte ihr, dass Erregung durchaus eine große Kraft ist, die den Mann oder auch die Frau durchströmt und das Hirn auch mal umnebeln kann. Aber ein Mann hat durchaus die Kontrolle, auch in Erregung, wenn er das will. Er kann ganz langsam eindringen, er kann stoppen oder weitermachen. Auch für einen Mann ist es angenehm, sich Zeit zu lassen und zu genießen. Denn je langsamer, desto mehr fühlt er. Ich frage, wie sie denn darauf komme, dass er keine Kontrolle haben könnte?
Ihre Gedanken schweifen ab in ihre Vergangenheit: Sie war ungefähr zwölf. In dem kleinen Dorf, das früher ihre Heimat war, sollte eine Hochzeit gefeiert werden. Die Frauen waren bei den Vorbereitungen, saßen im Kreis und schnippelten dies und das. Dabei sprachen sie über das Fest, die Braut, den Bräutigam und über die bevorstehende Hochzeitsnacht. Zunächst machten die Frauen nur vage Andeutungen. Doch so langsam steigerten sie sich hinein, eine übertrifft die andere. Sie berichten sich gegenseitig von ihren schrecklichen Erlebnissen, während der Hochzeitsnacht. „Bum, bum, bum“, Gabis Stimme ist laut. Die Handfläche der einen Hand schlägt hörbar auf die Faust der anderen. „Bum, bum, bum! So ist es, wenn er eindringt. Das Jungfernhäutchen reißt. Immer weiter bum, bum, bum.“ Sie breitet die Arme aus. „Und alles voller Blut.“ Sie lässt die Arme sinken. Tränen strömen aus ihren Augen. Sie sucht in ihrer Tasche. Erschrocken springe ich auf und reiche ihr ein Papiertaschentuch. Schenke ein Glas Wasser ein. Erst mal Beruhigung.
Ich sage, Sexualität kann ganz anders sein. Zart und behutsam. Langsam. Intim. Tastend. Ein Jungfernhäutchen, das die Scheide verschließt, gibt es bei den allermeisten Frauen gar nicht. Denn sie ist schon offen. Im Mutterleib, in einer frühen Phase der embryonalen Entwicklung, ist die Scheide noch geschlossen. Das Häutchen öffnet sich bereits vor der Geburt. Die Reste des Häutchens umranden die Vaginalöffnung wie ein Kranz (Korona, Hymen, Scheidenkranz). Wie alles andere am Körper, sind auch Hymen verschieden. Bei manchen Frauen ist der Schleimhautsaum etwas fester, bei anderen weicher. Er wird sich im Laufe der Zeit während der Sexualität immer weiter dehnen. Der Beweis dafür, dass die Scheide schon offen ist, ist die Menstruation, die sonst nicht abfließen könnte. Bleibt eine Scheide geschlossen, was äußerst selten vorkommt, wird das Hymen durch einen kleinen chirurgischen Eingriff geöffnet. Wie sich dein Hymen anfühlt, kannst du mit deinem Finger prüfen. Es braucht also gar keine Verletzungen zu geben, wenn sich das weibliche Geschlechtsorgan entspannt. Streicheln ist wunderbar. Zärtlichkeiten sind wunderbar. Dass da ein blutiges Tuch aus dem Fenster gehängt werden kann, ist keine Realität. Das ist ein Mythos. Da wurde wohl sogar Blut von armen Tieren genommen, damit das drastischer wirkt.
Sie spricht davon, dass es Ärzte gäbe, die für viel Geld Botox in die Scheide injizieren, um die Vagina zu betäuben und so die Penetration möglich zu machen. Sie habe daran gedacht, ob das eine Lösung sein könnte. Was ich davon halten würde? Nichts, sage ich. Denn es geht ja gerade darum, dass das weibliche Geschlecht Vertrauen gewinnt und im Laufe der Zeit lernt, immer differenzierter zu fühlen, damit die Angst abnimmt vor dem Unbekannten. Eine Penetration in eine betäubte Vagina wäre ja genau das Gegenteil. Ich empfehle, behutsamen Hautkontakt auszuprobieren, zunächst einmal beim gegenseitigen Streicheln. Das ist der Anfang. Dann Erotik ganz langsam und in kleinen, achtsamen Schritten zu beginnen. Alles ist gut, was Körper und Seele entspannt. Ich bespreche mit ihr, was sie selbst tun kann, um sich zunächst einmal selbst kennenzulernen.
Das Paar-Coaching
Nach drei Einzelterminen kam ihr Mann wieder mit, und das war gut. Dieses Mal wirkte er entspannter. Nun ging es vorwärts. Seine Präsenz und Aufmerksamkeit waren gefragt. Wir besprachen die Hausaufgaben, die sie zu Hause durchführen sollten. Erst mal der Austausch von Streicheleinheiten, Zärtlichkeiten ohne sexuellen Kontakt. Ohne Erregung. Ohne Druck. Erst mal sich gegenseitig kennlernen, beieinander ankommen.
Was so einfach klingt, war für die beiden durchaus gewöhnungsbedürftig. Das Licht war bisher immer ausgeblieben, nun ging es darum, genauer hinzuschauen. Zunächst einmal bei Kerzenschein. Er freute sich darauf. Sie war zurückhaltend. Sie mussten regelmäßig üben, mehrmals die Woche, egal ob ihnen danach war oder nicht. Sie mussten immer wieder Grenzen dehnen und neue Erfahrungen sammeln, stetig kamen weitere Herausforderungen hinzu. Zum Glück fanden beide großen Gefallen am gegenseitigen behutsamen Austausch von Zärtlichkeiten.
Im Laufe der Wochen wurde das Vertrauen größer, sie lernten sich körperlich immer besser kennen. Gabis Angst schmolz. Ich sagte, sie wären nun so weit. Nun könnten sie einen Schritt weitergehen. Sie sollten nun das weibliche Geschlecht einmal ganz genau betrachten, am besten mit Spiegel und Taschenlampe. Gabi brauchte ein paar Tage, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Dann war sie einverstanden. Sie hatte ja auch nichts zu verlieren, sondern alles zu gewinnen. Sie machten es sich im Bett bequem, Spiegel und Taschenlampe neben sich.
Der Blick auf die angstvolle Scheide
Warum ist das wichtig? Um ein Problem zu lösen, ist es von Vorteil, es ganz genau zu kennen. Es kann für einen Partner sehr berührend sein, den Vaginismus mit eigenen Augen zu erkennen, denn der Scheide sieht man in der Regel die Anspannung an. Sie wirkt dann wie von innen hineingezogen. Die äußeren Schamlippen pressen zusammen, die inneren verschwinden dazwischen. Der Scheideneingang ist manchmal kaum zu erkennen, zwischen dem angespannten Gewebe oder sehr fest zusammengekniffen. Kein Wunder, dass viele Frauen vermuten, dort drinnen sei viel zu wenig Platz für einen Penis. Aber eine Scheide kann sich lustvoll dehnen, dann, wenn sie entspannt ist.
In meiner Arbeit ist es für mich stets sehr berührend wahrzunehmen, wie sich das Aussehen eines weiblichen Geschlechts im Laufe eines Coachings komplett verändern kann. Zunächst zusammengezogen und fest, ein paar Monate später locker und entspannt. Das ist immer wieder ganz erstaunlich.
Warum ist es von Vorteil, wenn der Partner die angespannte Vagina mit eigenen Augen sieht? In der Regel wird ein Mann, der die Angst erkennt, vorsichtiger und einfühlender agieren. Das Problem ist nicht mehr nebulös, sondern wird ganz konkret erfassbar. Er erkennt die Not der Frau und kann mitfühlen. Er erkennt, es ist nicht so, dass sie nicht will, sie kann nicht. Das ist entlastend für beide und nimmt den Druck aus einem Liebesspiel. In der Regel ist das gemeinsame Anschauen der Vagina, ohne Erregung, ohne den Zwang irgendetwas Erotisches tun zu müssen und schon gar nicht, eindringen zu müssen, einfach nur um sich mit der Umgebung vertraut zu machen, am besten mehrmals hintereinander, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Auflösung des Problems.
Zurück zu Gabi. Gabi schämte sich. Es fiel ihr schwer, die nackte Vulva im Schein der Taschenlampe zu betrachten. Aber als sie die Scham einfach mal beiseitestellte und ihre Neugier aktivierte, so wie eine Forscherin beim allerersten Ausflug auf einem unbekannten Planeten, da veränderte sich etwas in ihr. Sie bekam Mitgefühl mit diesem kleinen unschuldigen Körperteil, das da verschreckt zusammenkniff. Bisher war sie wütend auf das nicht funktionierende Organ. Jetzt begriff sie, es kann ja nichts dafür.
Es brauchte drei Monate bis es möglich war, dass Gabis Ehemann seine Hand auf ihre nackte Scheide legen durfte und sie nicht angstvoll davor zurückschreckte, sondern die Berührung im Laufe der Zeit sogar genoss. Die warme Männerhand vermittelte nach einiger Zeit und viel Geduld sogar Geborgenheit. Es machte beiden Freude, die Geschlechtsorgane, das weibliche und das männliche, behutsam zu erkunden. Wie fühlt es sich an, wenn eine Fingerkuppe behutsam über die Schamlippen streichelt? Oder zwei Finger langsam die Klitoris umkreisen? Oder ein Finger still auf dem Scheideneingang liegt? Wie fühlte es sich an, wenn eine zarte Frauenhand sanft über den Penis gleitet? Behutsam über den Hoden streichelt? Mehrere Fingerkuppen federleicht auf der Eichel kreisen?
Es brauchte insgesamt neun Monate intensiver Arbeit, bis der erigierte Penis am Scheideneingang liegen durfte und Gabi dabei entspannt bleiben konnte. Sie erkannte, ja, mein Mann hat die Kontrolle. Ich bin stolz auf ihn. Und auch sie selbst hatte die Kontrolle. Sie war schon lange nicht mehr passiv und zurückgenommen, sondern konnte das Liebesspiel selbst aktiv gestalten. Sie nahm den Penis behutsam in die Hand, legte die Eichel an ihre Schamlippen. Bewegte ihren Körper ein ganz klein wenig, sodass eine winzige Reibung entstand. Dann führte sie die Eichel zur Klitoris, drückte ein wenig dagegen. Das war erregend. Und fand für sich die richtige Stellung: Sie lagen beide auf der Seite, hintereinander, um die Eichel ganz in Ruhe auf den Scheideneingang zu legen. Er ließ sie machen und bewegte sich kaum. Sie hörte sein leises Stöhnen hinter ihrem Ohr. Ein ganz klein wenig kam die Angst zurück. Sie atmete tief in ihren Beckenboden. Fühlte seinen warmen Körper ganz dicht hinter ihrem. Fühlte seine Erregung in ihren Händen, fühlte ihre eigene Erregung aufsteigen. Sollten sie es für heute dabei belassen und das nächste Mal weiter spielen? Gabi wünschte sich Vereinigung, und sie gelang.
Der letzte Termin. Der Ehemann lächelte die ganze Zeit. Beide wirkten wie frisch verliebte Teenager. Sie suchten dauernd Körperkontakt zueinander. Während sie auf der Couch saßen, lehnte sie an ihm. Er legte den Arm um ihre Schulter. Sie sagte, wenn ich das nächste Mal in meinem Heimatdorf bin, werde ich berichten, dass es schön ist.
Auch ich war glücklich über die gute Entwicklung meiner Klientin und ihres Mannes. Ich freute mich sehr, dass die gemeinsame Arbeit von Erfolg gekrönt war. Als die beiden zum ersten Termin in meine Praxis kamen, war ich nicht sicher, ob sie wirklich dran bleiben würden und dran bleiben könnten. Es ist ja für ein Paar, das so gut wie keine sexuellen Erfahrungen hat und noch dazu negative Vorurteile, nicht leicht, die eigenen Grenzen im Kopf immer wieder ein Stückchen zu dehnen. Es ist ja für viele Frauen und Männer, auch ohne Vaginismus, manchmal gar nicht so einfach, genau hinzuschauen und Geschlechtsorgane so selbstverständlich kennenzulernen wie einen Arm, ein Bein oder eine Hand.
Im nächsten Fall berichte ich von meiner Arbeit mit Heidi. Heidi genoss Erregung, hatte jahrelang eine aufmerksame und liebevolle Beziehung. Aber auch sie hatte panische Angst vor allem, was sich ihrer Scheide näherte. Das war nicht nur ein Problem für ihre Sexualität, sondern auch für die Dinge des Frauenalltags.