Was ist Vaginismus? Was, wenn der Körper sich verschließt – und es nicht aus eigener Entscheidung geschieht?
Gabi (26): „Ich bin jetzt seit vier Jahren verheiratet und habe noch nie Sex gehabt. Ich meine richtigen Sex, mit Geschlechtsverkehr, mit Penetration. Nicht ein einziges Mal. Meine Vagina verkrampft so sehr, dass sie völlig zumacht. Und ich kann nichts dagegen tun, das entzieht sich komplett meiner Kontrolle. Das ist nicht normal! Ich bin nicht normal! Ich bin verzweifelt. Mein Mann hat ja viel Geduld mit mir. Aber so langsam fällt uns nichts mehr ein. Die Zeit vergeht, und nichts wird besser. Zu Anfang haben wir noch gedacht, das gibt sich von allein, wenn wir uns erst mal besser kennen. Aber es blieb alles, wie es war. Keine Veränderung. Im Gegenteil. Wie streiten nur noch, es wird immer schlimmer.“
Gabi litt unter Vaginismus. Um sich vorstellen zu können, was das bedeutet, machen Sie einmal folgendes Experiment: Nehmen Sie ihre Hand und bilden eine lockere Faust. Blicken Sie auf die Öffnung, die sich in der Mitte der zusammen gefalteten Finger bildet. Nehmen Sie den Zeigefinger der anderen Hand und gleiten behutsam und langsam in die Öffnung hinein. Der Finger fühlt das Innere der Hand, die Haut, Knochen, Falten. Und die Hand spürt den tastenden Finger. Je lockerer Ihre Faust ist, desto entspannter das Innere. Spannen Sie nun probeweise die Hand ein wenig an und lassen wieder locker. Fühlen Sie die unmittelbare Auswirkung auf den Finger? Ziehen Sie den Finger wieder heraus und schließen die Faust. Pressen Sie die Finger fest zusammen. Fühlen Sie die Kraft der Muskeln in Hand, Unterarm, Oberarm, vielleicht sogar im Oberkörper? Spannen Sie noch etwas fester an. Was macht Ihre Atmung? Die Öffnung ist geschlossen. Tasten Sie mit dem Zeigefinger behutsam darüber. Versuchen Sie, mit der Fingerspitze durch die Öffnung zu kommen. Keine Chance. Alles zu. So viel Kraft wie eine Hand hat auch der Beckenboden.
So kann es sich auch in etwa anfühlen für die Scheide einer Frau, die unter einer schweren Form der sexuellen Funktionsstörung, dem Vaginismus, leidet. Sobald sich irgendetwas, ein Finger, das Spekulum eines Arztes oder ein erigierter Penis dem Scheideneingang nähert, entsteht Angst oder sogar Panik, der Beckenboden spannt reflexartig an, die Scheide macht zu. Die Betroffene hat darüber keinerlei Kontrolle, das Anspannen geschieht unwillkürlich. Sie können jetzt Ihre Hand ganz einfach öffnen. Vielleicht möchten Sie diese ein wenig ausschütteln, um sie zu lockern. Ihre Hand hat keinerlei Angst davor, dass es Schmerzen verursachen könnte, wenn sie sich öffnet. Im Gegenteil. Es tut gut, die Spannung aufzulösen. Aber was passiert bei Vaginismus?
Die Angst vor dem Eindringen
Jetzt gebe ich Ihnen eine Vorstellung, die Sie danach bitte gleich wieder abschütteln. Stellen Sie sich vor, sobald Sie der Faust erlauben, sich zu öffnen, würde ein langes, spitzes Messer hineinstechen. Was macht die Hand? So reagieren der Körper und die Psyche bei Vaginismus. Die Scheide macht zu. So zu, wie es nur geht. Angst oder sogar Panik verbreiten sich. Aus Angst vor Schmerzen oder Verletzungen spannen sich die Beckenbodenmuskeln an, ein Eindringen ist nicht möglich. Das Anspannen ist ein Reflex, die betroffene Frau hat keinerlei Kontrolle darüber.
Ich habe im Laufe der Jahre mit vielen Frauen gearbeitet, die unter dieser Angststörung litten. Ich bin nicht normal, das höre ich immer wieder von Frauen, die mit dem Thema in meine Praxis kommen. Die einfachste Sache von der Welt kann ich nicht. Warum ist das bei mir so? Viele dieser Frauen sind verzweifelt. Bei einigen geht es darum, ihre Partnerschaft zu retten, bei anderen darum, überhaupt einen Partner zu finden oder ihm näherzukommen. Wieder andere wünschen sich nichts sehnlicher als endlich Kinder.
Kann man Vaginismus lösen?
Mein persönlicher Ansatz als Sexualtherapeutin beruht auf der Verbindung von Coaching und Körperarbeit, von Bewusstmachung und Übungen und hilft dabei, angstbesetzte Vorstellungen durch real erlebte positive Wahrnehmungen zu ersetzen. Die Hälfte meiner bisherigen Klientinnen konnte Ihre Angst vollständig auflösen und ein erfüllendes Sexleben beginnen. Für ein weiteres Viertel der Frauen konnten die Beschwerden zwar nicht vollkommen aufgelöst, aber deutlich gelindert werden, indem sie einen natürlicheren und positiveren Umgang mit Sexualität lernten. Bei etwa einem weiteren Viertel zeigten sich leider kaum Veränderungen. Die große Angst vor dem Eindringen blieb. Es war diesen Frauen immer noch kaum oder nicht möglich, das eigene Geschlecht zu berühren, anzuschauen, zu erkunden, zu stimulieren. Spätestens dann war eine Psychotherapie ratsam, um seelische Ursachen tiefer zu ergründen. Parallel mussten sie zuerst einmal lernen, das Thema in ihr Leben und auch in ihr Liebesleben zu integrieren. Neue, kreative Wege zu finden und das Beste daraus zu machen, um den Druck herauszunehmen. Bis vielleicht eines Tages der Weg frei sein würde für einen neuen Anlauf. Wie eine Vaginismus-Therapie verlaufen kann, schildere ich im Laufe des Kapitels im Rahmen konkreter Fallgeschichten.
Wer ist von Vaginismus betroffen?
Meine Klientinnen sind in der Regel so verschieden wie die Ausprägungen ihres Problems. Da gibt es Frauen mit wenig Wissen über Sexualität sowie informierte Akademikerinnen. Frauen mit Migrationshintergrund ebenso wie ohne. Jüngere Frauen und ältere. Bei einigen ist das Problem von Anfang an da (primärer Vaginismus), bei anderen tritt es erst im Laufe des Lebens auf (sekundärer Vaginismus). Nora zum Beispiel konnte den Vaginismus nicht auflösen und dennoch glückliche Mutter werden. Gabi, die Panik hatte vor allem, das sich ihrem Unterleib näherte, konnte im Laufe der Sexualtherapie den Vaginismus lösen. Oder Heidi, die zwar Sexualität mit ihrem Partner genießen konnte, aber ohne Vereinigung. Dann Lilli, die 20 Jahre unsensiblen Sex durchlitten hatte, und deren Schmerzen bei der Vereinigung sich erst nach der Scheidung vollständig auflösen konnten.
Welche Formen von Vaginismus gibt es?
Vaginismus kann verschiedene Ausprägungen haben, diese werden unter der Bezeichnung Genito-Pelvine Schmerz-Penetrationsstörungen zusammengefasst. (Nora sagt, diese Bezeichnung sei ihr viel sympathischer als Vaginismus. Vaginismus klinge so hart. Genito-Pelvine Schmerz-Penetrationsstörung sei eine weicher klingende Zustandsbeschreibung. Da hat sie recht, allerdings ist Vaginismus prägnanter.)
Variante 1:
Bei Angst verschließt der Beckenboden die Scheide so fest wie die zusammengepressten Finger bei unserer Übung mit der Faust. Selbst eine gynäkologische Untersuchung ist nicht möglich.
Variante 2:
Die Scheide wird zwar als sehr eng empfunden, es darf jedoch unter bestimmten Umständen etwas eindringen, zum Beispiel der eigene Finger, ein Tampon oder ein schmales Spekulum des Arztes.
Variante 3:
Ein Penis kann zwar eindringen, bereitet aber Schmerzen. Diese Schmerzen können verschieden sein in Art und Stärke. Manche Frauen erleben ein Stechen, ein Pochen oder ein starkes Brennen, das sie zunächst gar nicht mit dem Begriff Vaginismus in Verbindung bringen.
Bei allen Varianten ist als Erstes beim Gynäkologen, bei der Gynäkologin abzuklären, welche körperlichen Ursachen es dafür geben könnte. Auch wenn eine Untersuchung nicht möglich sein sollte, kann über den Zustand gesprochen werden. Es ist nämlich zu prüfen, ob organische Hindernisse vorhanden sein könnten, welche die Schleimhaut, das Geschlechtsorgan oder den Beckenboden betreffen. Selten kann auch ein starkes Hymen (vaginale Korona) ein Eindringen verhindern. Wobei in diesem Fall die große Angst vor dem Eindringen, welche für einen Vaginismus charakteristisch ist, nicht vorhanden wäre.
Ist ein Liebessleben trotz Vaginismus möglich?
Das Liebesleben kann durch die sexuelle Funktionsstörung zwar beeinträchtigt sein, ist aber durchaus möglich. Viele Frauen haben gelernt, mit dem Problem umzugehen, hoffen aber darauf, dass es sich irgendwann einmal von allein auflöst. Sie haben zwar Freude am Sex, aber große Angst vor dem Eindringen des Penis. Manch eine Frau erreicht durch die Stimulation der Klitoris durchaus einen Orgasmus, aber die Scheide bleibt außen vor.
Maja berichtet: „Ich liebe es, wenn mein Mann mit seiner Hand meine Klitoris stimuliert und erlebe dabei einen wunderbaren Orgasmus. Wenn er jedoch ein paar Millimeter weiter zum Scheideneingang tastet, dann bekomme ich sofort Angst. Ich werde steif, mein ganzer Körper spannt sich an, und ich rücke von ihm fort. Das kennt er schon. Aber ab und zu tastet er trotzdem Richtung Scheide, um zu prüfen, ob sich etwas verändert hat. Ja, wir haben schönen Sex, indem wir uns gegenseitig verwöhnen. Aber er sowie ich wünschen uns endlich eine Vereinigung.“
Welche Ursachen kann es geben?
Warum kann ein Eindringen in die Vagina so überaus bedrohlich wirken? Es kann viele Gründe geben, die zu Angst vor dem Eindringen führen. Ich schreibe hier von meinen Erfahrungen aus der Sexualtherapie, der Arbeit mit Menschen und erhebe keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit oder Allgemeingültigkeit. Eine wichtige Frage erscheint mir stets, welche Vorstellungen über Erotik und Sexualität wurden dem heranwachsenden Kind vermittelt? War Sexualität natürlich und positiv besetzt? Oder Sünde und verboten? Erhalten ein Mädchen oder ein Junge beispielsweise ständig negative Mitteilungen über das eigene Geschlecht und die Beschäftigung damit, kann die Angst davor immer größer und immer unrealistischer werden. Viele betroffene Frauen sprechen von einem sexualfeindlichen Klima in der Familie, in dem jedes Wahrnehmen des eigenen Körpers verboten war.
Nora berichtet, alles was mit „dem Unterleib“ oder Sexualität zusammenhing, war in der Familie tabu. Eine Frau, die einen Rock trug, der eine Handbreit überm Knie endete, galt als „Nutte“. Als Kind berührte sie ihr Geschlecht über der Schlafanzughose. Diese war an dieser Stelle öfter durchgescheuert und die Mutter musste nähen. Sie tat es, aber mit abwertenden Kommentaren. Nora entwickelte ungeheure Scham. Ihr eigenes Geschlecht blieb ihr fremd. Sie hatte die ständigen Abwertungen und Ermahnungen so verinnerlicht, dass sie im Erwachsenenalter nicht mehr in der Lage war, ihr Geschlecht zu berühren. So als würde es nicht dazugehören. Sie konnte einfach keine Verbindung aufbauen zwischen den erotischen Fantasien in ihrem Kopf und ihrer Vagina. Ihren Vaginismus konnte sie nicht auflösen. Aber sie wurde dennoch Mutter. Wie das möglich war, werden Sie in der Fallgeschichte erfahren.
Umgekehrt kann auch zu viel Freizügigkeit die Seele eines Kindes oder Heranwachsenden belasten. Heidi erinnerte sich zunächst an nichts Besonderes, was beeinträchtigt haben könnte. Sexualität schien völlig frei zu sein in ihrem Elternhaus, allerdings freier als ihr lieb war. Die Eltern liefen nackt durchs Haus, deshalb brachte sie niemals Freunde mit. Als sie als Pubertierende den Vater nicht mehr nackt Zähneputzen sehen wollte und seine Badezimmertür schloss, nannte er sie prüde. Abends, wenn die Eltern sich liebten, hörte sie lautes Stöhnen durch die Wand. Und sie schämte sich. Sie fühlte sich allein. Verschloss sich immer mehr auch vor sich selbst. Zum Glück lernte sie bald ihren Freund kennen, war immer öfter bei ihm. Das war ihre Rettung, sagt sie. Sie zog nach kurzer Zeit zu ihm, und die beiden hatten viele Jahre lang eine vertrauensvolle und harmonische Partnerschaft. Erotik war zwar möglich und schön, aber Geschlechtsverkehr gelang nicht. Sobald er sich dem Scheideneingang näherte, geriet sie in Panik. Sie trennten sich nach vielen Jahren als gute Freunde. Heidi kam ins Coaching, nun wollte sie sich endlich um sich selbst kümmern. Sie konnte im Laufe unserer Zusammenarbeit den Vaginismus vollständig auflösen. Wie das gelang, davon berichte ich in der Fallgeschichte.
Weitere Frauen, mit denen ich arbeitete, haben sexuellen Missbrauch durchlitten. Dann braucht es in der Regel besonders viel Zeit und Vertrauen, um den Vaginismus aufzulösen. Dann müssen wir in der Körperarbeit in sehr kleinen Schritten vorwärtsgehen. Die Klientin möchte jede neue Erfahrung in aller Ruhe auf sich wirken lassen, um dann eventuell einen nächsten Schritt zu wagen.
Wie kann Heilung gelingen?
Es kann viele Gründe geben, die Freude am Geschlechtsverkehr verhindern und auch viele Wege, die zu einer neuen Zufriedenheit führen können. Im nächsten Beitrag werde ich anhand eindrucksvoller Fallgeschichten einen Einblick in therapeutische Ansätze geben und erklären, wie Heilung entstehen kann.
(Der Artikel ist meinem Buch entnommen: Endlich guter Sex (2021), Seiten 11-18)